Dortmund: Ein Schachturnier im Wandel der Zeiten

Am diesjährigen Sparkassen-Open in Dortmund nahmen aus unserem Verein Dirk Topolewski und Josef Mrowetz teil. In der A-Gruppe spielte Dirk zu Beginn stark auf und erreichte – nach Abbrechen des Turniers aus gesundheitlichen Gründen – 4,5 Punkte. Josef schlug sich tapfer im B-Open, wurde aber nur mit 1,5 Punkten belohnt. Nach dem Turnier nahm sich Dirk die Zeit, einen ausführlichen Bericht zu schreiben:

Anno 1980 nahm ich zum ersten Mal am Open der Dortmunder Schachtage teil. Seinerzeit gab es (zum Glück) noch nicht so viele Autos und so fand man ohne Mühe einen Parkplatz in der Nähe des Spiellokals. Selbiges war die Ausstellungshalle im Dortmunder Westfalenpark, ein wirklich traumhaftes Ambiente. Das Open fand im gleichen Raum wie das GM-Turnier statt. Für dieses wurden 12 Spieler eingeladen: Weltklasse-Großmeister, aufstrebende IM´s und Lokalmatadoren, bunt gemischt. Die Nationalität war damals noch nicht wichtig und es wurde spannendes Schach geboten. Wenn man die Halle verließ, konnte man die Atmosphäre des Westfalenparks genießen. Der argentinische GM Campora hatte sich einmal (während einer seiner Partien) an den Flamingo-Teich gesetzt und war von dem Anblick so fasziniert, dass er fast durch Zeitüberschreitung verloren hätte, wenn ihn der Turnierleiter nicht noch rechtzeitig aufgespürt hätte. Seinerzeit brauchte man auch noch keine Sorge zu haben, dass der Gegner, wenn er mal länger als 5 Minuten den Turniersaal verließ, in irgendeiner finsteren Ecke einen Pocket-Fritz oder Houdini befragen könnte… Im Open war die durchschnittliche Spielstärke der Teilnehmer deutlich niedriger als heutzutage, der Altersdurchschnitt dafür aber höher. Die stärksten Spieler hätten aber wohl allesamt einen IM-Titel gehabt, wenn seinerzeit die Teilnahme an mehr Normenturnieren möglich gewesen wäre. Bierernst ging es auch nicht immer zu. In dem Zusammenhang fällt mir eine Anekdote ein, über welche seinerzeit in der Rochade berichtet wurde: „Nach dem Genuss von 7 Flaschen guten Dortmund Biers setzte der Wattenscheider Sandkamp mit glasigem Blick, aber sicherer Hand, seinem Gegner Przewoznik drei verbundene Freibauern auf die 7. Reihe und nötigte damit den polnischen IM zur Aufgabe!“
Zurück ins Jahr 2015: nach über 10jähriger Turnierabstinenz hatte ich mich mal wieder für das Open in Dortmund angemeldet. Nach längerem Abwägen, ob die Anreise per S-Bahn oder das eigene Kfz die bessere Alternative wären, entschloss ich mich, mit dem Auto anzureisen. Als das Navi mich dann aber am vorletzten Samstag durch die Blechlawinen der überfüllten Dortmunder Innenstadt lotste, kamen mir erste Zweifel, ob meine Entscheidung richtig gewesen war. Gegen alle meine sonstigen Gewohnheiten traf ich dann (zum Glück) eine halbe Stunde zu früh am Spielort ein und ergatterte so einen der letzten freien Parkplätze im Umfeld. Ca. 5 Minuten später konnte ich dann eine Beinahe-Prügelei miterleben zwischen einem älteren Herrn und einer Anwohnerin, welche offenbar beide fast gleichzeitig den allerletzten freien Parkplatz angesteuert hatten. Obwohl der ältere Herr fast verzweifelt beschwor: „Ich muss doch gleich Schach spielen!“ blieb die Dame hart und ließ sich nicht erweichen, den Platz zu räumen.

Beim Anblick des Spiellokals bekam ich dann einen leichten Schock.  Verwöhnt vom Ambiente der 70iger und 80iger Jahre hatte ich nicht damit gerechnet, dass es sich bei dem Fritz-Henßler-Haus um ein ehemaliges(?) und etwas herunter gekommenes Schulgebäude handelt. Beim Anblick des Spielsaals war mein erster Gedanke: „da wurden wohl vor kurzem noch die Abiturarbeiten geschrieben!“. Zu Beginn der ersten Runde waren die Fenster noch geöffnet. Aber da in ca. 50 Metern Entfernung eine Hauptverkehrsstraße verläuft, wurde das ewige Motorengeräusch, Hupen, Presslufthämmern usw., irgendwann so störend, dass die Fenster geschlossen wurden. Bei Außentemperaturen von 30, in späteren Runden sogar fast 40 Grad Celsius, leider ein suboptimaler Zustand. Da ich mich im Laufe des Turnieres in die Spitzengruppe vorarbeiten konnte, kam ich dann glücklicherweise in den Genuss, in einem Extra-Raum spielen zu dürfen, der den ersten 4 Brettern vorbehalten war. Die Veranstalter gaben sich alle Mühe, stellten sogar einen großen Ventilator auf und verteilten kostenloses Wasser-Eis. Von Vorteil war sicher auch, dass im Gegensatz zu 1980, ein komplettes Rauchverbot im Gebäude herrschte. Eine weitere, positive Veränderung: in den 70igern und 80igern galt noch die Redewendung: „Die Mutter hat zwei Töchter. Die eine ist hübsch, die andere spielt Schach!“. Anno 2015 hingegen konnte man erstaunlich viele gut aussehende Damen unter den Teilnehmerinnen und Zuschauerinnen bewundern. Zurück zum sportlichen Aspekt: lt. den Veranstaltern war eine beträchtliche Zahl der Teilnehmer am Open B von den kurz zuvor stattfindenden NRW-Jugendmeisterschaften angereist. Dementsprechend niedrig war der Altersdurchschnitt bei diesem Turnier. Ähnlich verhielt es sich beim OPEN A: viele Teilnehmer der deutschen Jugendmeisterschaft, der Jugendbundesliga, einige junge Spieler welche kürzlich in der Seniorenbundesliga debütiert hatten, sowie andere die schon IM-Normen hatten, usw, usw. Nach meinen Beobachtungen war der typische Open-A-Teilnehmer ein Leistungssportler, zwischen 16 und 23 Jahren alt, schachlich hervorragend ausgebildet, ein sehr solider und korrekter Positionsspieler mit einem schmalen Eröffnungsrepertoire aus gut ausgearbeiteten Hauptvarianten (e4 oder d4 mit Weiß, mit Schwarz z. B. Slawisch und Siz.-Najdorf). Das Feld wurde komplettiert von einigen Profis und Routiniers. Eine Reihe von Spielern aus den beiden letztgenannten Gruppen mussten am Ende des Turnieres deftige Elo- und DWZ-Verluste quittieren.

Aus Sicht des Vereins: Josef hatte im Open B eine der niedrigsten DWZ, schlug sich dafür aber recht wacker. Mehr habe ich leider nicht mitbekommen, sorry. Mir gelangen 4 Siege (u.a. gegen den Sechsten und Achten des Endklassements) bei 2 Verlustpartien (gegen die Nr.3 und die Nr.7). Meine Endplatzierung ist sicher sehr unbefriedigend, aber immerhin schloss ich nach Punkten und Buchholzzahl gleichauf mit GM Starostis ab, welcher dafür aber 3 gespielte Partien mehr benötigte als meine Wenigkeit. Vor der Schlussphase des Turnieres wurde ich durch einen veritablen Kreislaufkollaps („36 Grad und es wird immer heißer!“) außer Gefecht gesetzt, so dass ich die letzten Runden leider verpasste. Bleibende Schäden sind nicht  zu erwarten und falls ich noch mal bei einem Schachturnier unter subtropischen Bedingungen antreten sollte, würde ich sicher einiges anders handhaben. Überhaupt ist ein großes Schachturnier am eigenen Wohnort nicht unbedingt das Optimale. Vor allem, wenn man tagtäglich mit Problemen aus anderen Bereichen konfrontiert wird (Josef müsste mich verstehen!). Das Open A sah am Ende fünf punktgleiche Spieler in Front, wobei der belgische FM de Schampleheire mit Abstand die höchste Buchholz-Wertung aufwies und nach meinen Eindrücken hochverdient den ersten Platz belegte.
Das GM-Turnier wurde medientechnisch perfekt organisiert und inszeniert. Als Aufhänger diente in der Presse die Geschichte vom weltfremden Großmeister, der angeblich immer rote Ampeln übersieht und fast von der Bühne fällt. Eingeladen wurde u. a. die chinesische Ex-Weltmeisterin, wohl um den Medien wieder einmal die Story vom Kampf der Geschlechter präsentieren zu können. Einige Kommentatoren hätten sich lieber deren Landsmann, den deutlich spielstärkeren Seriensieger diverser Open, GM Li Chao, gewünscht. Statt 12 Teilnehmern (wie anno 1980) sind es seit einigen Jahren nur noch 8 (wohl aus Kostengründen). Von den alljährlichen Dauergästen beim GM-Turnier (Leko, Anand, Kramnik) wurde diesmal der Letztgenannte eingeladen.  Dazu kamen, wie seit einigen Jahren üblich, drei Spieler mit deutschem Pass. Darunter der Ex-Rumäne Nisipeanu, welcher erst kürzlich vom armen rumänischen zum reichen deutschen Schachverband gewechselt ist. Ebenfalls dabei war, wie in jedem Jahr, die Nr.1 der deutschen Rangliste, Arkadij Naiditsch. Gem. diversen Berichten im Web soll jener aber auch einen Wechsel der Nationalität in Betracht ziehen und demnächst zum (noch) reicheren aserbaidschanischen Verband migrieren wollen. Ein Kommentator im Internet fand das auch gar nicht so schlimm, denn dann würde statt Naiditsch endlich mal ein anderer eingeladen werden. Bemerkenswert fand ich, mit welchem Patriotismus auf den Seiten des deutschen Schachbundes alle Erfolge der Alt- und Neu-Germanen („unser Liviu“ u. v. a. m.) gefeiert wurden. Aber auch beim Schach scheint offenbar der Nationalismus nun (wieder) eine immer größere Rolle zu spielen. Sehr positiv anzumerken ist der Kampfgeist der Großmeister. Kaum ein Remis, dafür überraschend viele Schwarzsiege und Erfolge der Außenseiter. Der Zuschaueransturm schien sich in Grenzen zu halten (ich war aber nur zweimal kurz beim GM-Turnier). Dafür war die Resonanz in den Mainstream-Medien sehr positiv. Am Ende siegte der Elo-Favorit Caruana mit 1,5(!) Punkten Vorsprung und Kramnik erreichte nur 50%.

Nach meinen Eindrücken haben bei den Dortmunder Schachtagen viele Idealisten sehr viel Zeit und Mühe investiert und ein großes Event auf die Beine gestellt. Dass dabei nicht alles immer 100%ig perfekt sein kann, ist verständlich. Wenn sich z. B. einer der zahlreichen Schiedsrichter viel zu wichtig und etwas daneben benimmt, kann man dies den Veranstaltern kaum zur Last legen. Und die traumhafte Location im Westfalenpark (oder Vergleichbares) ist wohl einfach nicht (mehr) verfügbar.
Die Rekord-Teilnehmerzahl bei den Open ist jedenfalls ein Indiz dafür, dass die Veranstalter offenbar voll im Trend liegen und sehr vieles richtig gemacht haben.